Wie die Luft zum Atmen

Nichts fordert den Charakter eines Menschen so sehr heraus wie Macht. Ein ­Gespräch über den Willen zur Macht, den Machtverlust des Liebenden und die pure Machtlust.

Anja Jardine
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«Putin als Hundehalter, ohne Leine, der Hund pariert auch so, das ist klar.»

«Putin als Hundehalter, ohne Leine, der Hund pariert auch so, das ist klar.»

Herr Safranski, Macht ist ein negativ belegter Begriff. War­um eigentlich?

Es geht uns allen so: Bei Macht sehen wir erst mal rot. Dabei sind wir Profiteure von funktionierenden Machtverhältnissen. Der französische Philosoph Foucault hat unterschieden zwischen Macht, die Nein sagt, also der verbietenden Macht, und der lebensermöglichenden Macht, also einer Macht, die etwas Belebendes hat. Wir atmen ständig Machtluft. Ohne sie könnten wir nicht leben. Das geht damit los, dass man an der Ampel dem Signal Rot folgt und stehenbleibt. Auf jedem Amt sind es Machtbeziehungen, wenn wir Formulare ausfüllen oder Gebühren bezahlen, um ans Telefonnetz angeschlossen zu sein. Regeln sind Machtphänomene. Hinter jeder noch so harmlosen Regel steckt eine Sanktionsgewalt. Je mehr Macht, umso weniger explizite Gewalt.

Je mehr Macht, umso weniger explizite Gewalt – tatsächlich?

In einer Zivilisation ist es so – deswegen bin ich gegen die Verteufelung von Macht –, dass die Menschen in Regeln eingebunden sind, und die funktionieren nur, weil es die Gewaltdrohung gibt. Macht ist etwas Lebensermöglichendes.

Aber Macht ermöglicht doch Gewalt?

Um zu verhindern, dass Mächte zur Gewalt werden, gibt es Machtbalancen. Das ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Im Binnenraum eines Staates gibt es die Gewaltenteilung, wobei der Begriff irreführend ist: Eigentlich ist es eine Mächteteilung, die wechselseitig darauf aufpasst, dass eine Macht nicht zur Gewalt wird. Wenn man auf die Zeit des Kalten Krieges zurückblickt, sieht man, dass die Gewaltdrohung sehr hoch, die Gewaltausübung gemessen daran minimal war. Die wäre im Zeitalter des Atompatts auch final gewesen. Da haben wir uns an eine für mich elementare Unterscheidung herangetastet, nämlich die zwischen Macht und Gewalt.

Wobei die Grenze fliessend ist, oder? Selbst in einem Rechtsstaat empfindet so mancher Machtdemonstrationen als Gewalt.

Wenn der Zollbeamte damals an der Grenze zur DDR im Befehlston sagte: «Machen Sie das Ohr frei» – zum Vergleich mit dem Passfoto, empfand man das fast als Gewalt, obwohl der Grenzbeamte ja dazu befugt war. Wenn es aber jemand sagt, der nicht befugt ist, empfinden wir es als Nötigung und Gewalttätigkeit. Trotzdem müssen wir Gewalt unterscheiden von Macht. Gewalt wird vom Opfer immer als negativ erlebt. Macht ist ein viel reicherer Begriff.

Sie kann auch vom Unterlegenen positiv erlebt werden?

Nun ja. Der Schriftsteller Elias Canetti hat einen wunderbaren Ausdruck geprägt: Befehlsstachel. Dir wird etwas befohlen – die klassische Machtsituation. Beim Befehlsempfänger bleibt jedes Mal ein Stachel zurück, man ist vollgespickt. Die Stachel schmerzen und können eitern, eine Person zersetzen.

Nietzsche antwortete auf dieses Phänomen mit dem «Willen zur Macht», den jeder Einzelne entwickeln könne.

Ja, sein Konzept lautete: Gegen Befehle, die man empfangen hat, helfen nur Befehle, die man sich selbst gibt. Es ist die Vorstellung, der Regisseur seines eigenen Lebens zu sein. Nicht in dem Sinn, dass man sein Umfeld wirklich beherrschen könnte, man besteht voller Stacheln. Aber es kommt darauf an, alles, was dir geschieht, selber in eine Form zu bringen. Das war Nietzsches grosser Traum. Dass nicht Fremdkörper in dir rumoren, sondern dass du das, was in dich eindringt, umwandelst in etwas, das dir gehört.

Ich akzeptiere die Widrigkeiten des Lebens, dann verlieren sie die böse Macht über mich. Wie unterscheidet sich das von Fatalismus?

Nietzsche sagt nicht: Ich wollte diesen Schicksalsschlag. Sondern er sagt: Jetzt, da ich ihn erlebt habe, mache ich was draus. Solange man bei Verstand ist, gibt es keine Situation, aus der man nicht etwas machen kann. Umwandeln. Antworten. Der Fatalist antwortet nicht mehr. Das ist Schreckensstarre. Der klassische Fall von Ohnmacht. Nietzsche kommt es aber darauf an, dass es von der Selbstbehauptung zur Selbststeigerung kommt. Es ist eine Spirale nach oben. Für ihn persönlich bedeutete es, Erlebtes in Kunst zu verwandeln. Sein Machtbegriff ist sehr fruchtbar, denn er denkt ihn nicht politologisch, sondern energetisch. Er geht von Kräftefeldern aus.

Meint es das Gleiche wie Senecas «Eigne dich dir an»?

Ja. Im Grunde ist es der Gedanke: Das wollen wir doch mal sehen, ob mich das fertigmachen kann. Ob ich dem nicht die Stirn bieten kann. Da steckt Trotz drin. Nietzsche sagte: Nur im Angriff ist klingendes Spiel. Wobei er wohl in seinem Werk ein persönliches Defizit kompensierte. Er konnte Richard Wagner nicht ins Gesicht sagen, was er wirklich vom «Parsifal» hielt. Zur Machtausübung im direkten Lebensvollzug war er viel zu schüchtern. Deswegen strömte vieles in sein Werk, was im Gelebten, Unmittelbaren nicht stattfand. Im Leben hatte er dauernd das Gefühl, er dringe nicht durch. Er war auch feige. Aber der Lackmustest ist natürlich, ob man in den Kriechströmungen der Mächte – und wir leben alle in solchen unterschwelligen, sich täglich verändernden Mächteverhältnissen – das Gefühl hat, man komme nicht unter die Räder, sondern behaupte seinen Raum, seine Person.

Nietzsche bezeichnet auch den Asketen als Machtmenschen. Das ist interessant, gilt der doch gemeinhin als machtfern.

Nietzsche sieht in dem Asketen zeitweilig den Inbegriff dessen, der Herrschaft über sich hat. Ich kann auf alles verzichten. Der Verzicht nimmt nicht, sondern er gibt. Er gibt Kraft. Wagner war ja der Gegentyp. Plüsch, Samt, schwere Decken. Wagner, der Verwöhnte, der Reiche, das geniale Plüschtier. Und dazu im Gegensatz Nietzsche. Es wäre schön gewesen, Nietzsche hätte es mal auf die direkte Konfrontation ankommen lassen.

Wo wirken überall Mächte, gegen die wir uns behaupten müssen?

Es gibt die Macht über Personen, die über Territorien – Raumbeherrschung. Dann gibt es Macht über die Zeit, die Gestaltung der Zeit: Mit wem will ich zusammen sein, wann telefoniere ich, wann beuge ich mich einem Zeitdiktat? Wir haben eine gesellschaftlich bewirtschaftete Zeit, dagegen die Eigenzeit zu behaupten erfordert einen unglaublichen Machtkampf.

Wie werden in nicht formalisierten Machtverhältnissen Rivalitäten ausgetragen?

Es können Faktoren wie Ruhm, Geld, Rang oder Schönheit ins Spiel gebracht werden. Leugnen lassen sie sich nicht, sie sind da. Aber wir empfinden es als penetrant, wenn diese Aspekte für Überlegenheitsspiele instrumentalisiert werden. Wobei man genau hinschauen muss. Menschen sind einander unter- oder überlegen. Aber wer Umgangsformen hat, oktroyiert derlei nicht. Wir kennen das alle. Die wirklich Reichen machen kein Aufhebens von ihrem Reichtum, die Neureichen schon.

In der Liebe ist das seltsam: Derjenige, der mehr liebt, ist der Schwächere. Normalerweise ist derjenige, der mehr von einem Gut besitzt, machtvoller.

Das stimmt. Die Symmetrie ist in der Liebe eine andere. Es ist vielleicht das einzige Beispiel, bei dem es andersrum ist. Wer mehr liebt, ist verwundbarer, verletzbarer, allein schon deswegen, weil das Risiko des Schmerzes bei Verlust grösser ist.

Das persönliche Glück liegt ausserhalb der eigenen Person. Das Gegenüber hat die Verfügungsgewalt.

Ausgenommen vielleicht die nicht besitzergreifende Liebe. Ich liebe dich, aber was geht es dich an? Die gibt es wahrscheinlich nur in der Literatur. In Platons «Symposion», dem grossen Nachdenken über die Liebe, sagt Platon: Der, der begehrt, hat die grössere Seinsfülle. Der andere ist nur der Rezipient, also energetisch armseliger.

Es sei denn, das Begehren ist beidseitig.

Genau! Dann gibt es die Synergie. Eine glückliche Liebesbeziehung bedeutet ja, dass sich da zwei zusammengetan haben, um in sich, wechselseitig sich verstärkend, eine Steigerung des Lebens- und Seinsgefühls zu erzeugen. Die Liebe ist eine gemeinsame, nach innen gewandte Macht im Sinne einer Lebensmacht, die auch ausstrahlt. Ein Paar, das glücklich miteinander ist, hat etwas Ansteckendes. Es kann ein machtvolles Feld um sich herum erzeugen, das stärker ist als das, was jeder Einzelne von denen zustande brächte.

Sozusagen der Inbegriff einer Macht, die Ja sagt?

Ja. Aber auch ein Placebo ist eine lebensermöglichende Macht. Wie jeder suggestive Gedanke, bis hin zum Trivialen: Ich bin ok, du bist ok. Die Psychotherapie kann mit dem suggestiven Machtpotential der Selbstüberredung arbeiten. Nicht anders als in der Medizin, wo Placebos tatsächlich biochemische Prozesse in Gang setzen, die zur Heilung führen können. Oder denken Sie an die Macht der Persönlichkeit: Charisma. Eine natürliche Autorität, etwas Unbeabsichtigtes, ein zauberhaftes Phänomen. Um manche Menschen herum entsteht Magnetismus. Goethe war eine im hohen Masse charismatische Figur. Wenn der in den Raum kam, richteten sich die Eisenspäne nach ihm aus.

Mit einem solchen Machtinstrument muss auch der Mächtige selbst umgehen können.

Goethe organisierte sein Leben so, dass er das Feld beherrschte. Deswegen vermied er es, nach Berlin zu gehen, und er nahm auch Napoleons Einladung nach Paris nicht an. Man muss ja nicht zu den Hysterikern nach Berlin oder Paris gehen. Weimar reicht, vor allem ein Weimar, wo Gott und die Welt hinkamen. Goethe war alles in allem geistig ein so gesunder Mensch, weil er nichts in sich hineingefressen hat, anders als Nietzsche, der im unmittelbar gelebten Machtfeld versagte und dann die grosse Machtergreifung in der Literatur und in der Philosophie vornahm.

Kommt formale Macht ohne Charisma aus?

Das kommt drauf an. Neben der persönlichen Ausstrahlung gibt es noch das Amtscharisma, einen Begriff, den der Soziologe Max Weber geprägt hat. Das Amtscharisma ist mehr als die Macht des Amtes. Beim deutschen Bundespräsidenten konnte man es sehen: Christian Wulffs persönliches Charisma geht gegen null, da wurde offensichtlich, wie wenig Charisma das Amt hat, wenn es nicht von der Person unterfüttert wird. Bei Joachim Gauck ist das anders. Dann wiederum gibt es Ämter, die haben so ein starkes Charisma, da kann ein Nudelholz drinstecken, und es macht trotzdem was her.

Zum Beispiel?

Das englische Königtum. Oder der katholische Priester, ein Paradebeispiel für Amtscharisma. Das ist dargestellte Transzendenz, die ist überirdisch, auf die zufällige Person kommt es nicht an.

Weil die Macht von Gott verliehen ist?

Betrachtet man die Geschichte der Menschheit, war Macht immer religiös motiviert. Dass ein Mensch Macht über andere Menschen hat, legitimierte sich nur über die Stellvertreterrolle: Vom Familienvater bis hin zu Priester, Papst und Kaiser hat Gott die Macht verliehen. Das gibt zu denken, dass im christlichen Abendland so lange derart gedacht worden ist: Macht als etwas, das von oben verliehen und nicht von unten generiert wird.

Wie kommt Amtscharisma in niederen Rängen zustande?

Das Ansehen eines Amtes ist die kristallisierte Form des unterschwelligen Wissens der Leute, dass das Amt notwendig ist. Es hat Ansehen, weil es durch die vielen Magnetspäne der Zustimmung umkleidet ist. Ein Feuerwehrmann in Uniform geniesst grosses Ansehen, weil das Amt als elementar empfunden wird. Oder denken Sie an die Halbgötter in Weiss, Ärzte haben Lebensmacht.

Hat auch der Steuerbeamte Charisma?

Seine Notwendigkeit wird so manchem erst beim zweiten Nachdenken klar. Aber zweifellos ermöglicht er unabdingbare Leistungen, die ein geordnetes Staatswesen jedem Einzelnen erbringt. Da passiert leider manchmal das Atemluftsyndrom: Man ist so selbstverständlich Konsument der lebenserhaltenden Leistungen des Gemeinwesens, dass man sie als selbstverständlich betrachtet. Gegenüber Dingen, die funktionieren, entwickelt man keine Dankbarkeit, weil man sie nicht mehr bemerkt.

Gegen Achtungsverlust ist kein Amt gefeit, nicht wahr? Gegenüber Polizisten zum Beispiel scheint sie salonfähig zu sein.

Wenn ich auf meine eigene 1968er Zeit zurückblicke, war die Polizei der Kombattant. Man hatte Respekt wie vor einem Gegner. Grundsätzlich aber, denke ich, hat auch der Polizist Amtscharisma. Schon allein die Uniform als ausseralltägliche Kleidung kennzeichnet ihn als Schiedsrichter und gibt ihm einen exterritorialen Ort. Das sind die Spielregeln. Ämter und Uniformen sind dinglicher Ersatz für Charisma. Machtzeichen und Attribute dieser Art sind nötig, um die Gesellschaft funktionstüchtig zu halten.

Der Amtsträger wird durch die Uniform zur öffentlichen Person?

Ich hatte ein seltsames Erlebnis. Vor unserem Haus ist Halteverbot, trotzdem stehen oft Autos vor unserer Einfahrt. Einmal hatten wir einen wichtigen Termin und mussten die Polizei rufen. Zu meiner Überraschung redeten die Polizisten so, als wären sie Freunde des Fahrers: «Wo ist das Problem? Abschleppen? Das müssen Sie selber zahlen.» Nicht einmal einen Strafzettel sollten die Falschparker bekommen. Ein Amtsinhaber, dessen Rolle es ist, die öffentliche Ordnung zu verteidigen, tritt auf die Seite der Sünder. Das ist, als wenn der Schiedsrichter auf dem Fussballfeld mitkicken würde.

Die Verleihung eines Amtes bekommt nicht jedem. Abraham Lincoln sagte: «Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.» Was ist das Korrumpierende der Macht?

Da kommen wir an das Herzstück dessen, was politische Macht eigentlich ist. Von der Macht, die in einem Gemeinwesen als Ordnungsmacht funktioniert, erwarten wir, dass sie im Dienste der Allgemeinheit ausgeübt wird. Also dass die Person, die sie innehat, zur allgemeinen Person wird. Und dass sie zwischen der öffentlichen Person, die sie aufgrund von Amt und Verantwortung ist, und der privaten zu unterscheiden versteht. Wir sprechen dann vom Korrumpieren der Macht, wenn diese beiden Sphären in einer Person nicht auseinandergehalten werden. Hegel sagte: Wer ein staatliches Amt innehat, ist Funktionär, Vertreter des Allgemeinen. Und die Höhle des Privaten muss davon getrennt bleiben. Das heisst, es findet eine Art Wesensverwandlung statt. Eine Person wird zu einer öffentlichen Person und damit zu einer anderen Person.

Und diese Wesensverwandlung gelingt den wenigsten?

So sieht es aus. Das Private wird im Sinne eigenen Gewinnstrebens oder eigener Machtgelüste mit dem Amt verknüpft, das bezeichnen wir als Korrumpierung sowohl des Amtes als auch der Person durch die Macht. In diesem alltäglichen Phänomen findet sich in der säkularisierten Zeit die alte Unterscheidung zwischen dem Profanen und dem Heiligen wieder. An die Stelle des Heiligen ist das Allgemeine getreten und an die Stelle des Profanen das Private.

Wie meinen Sie das?

Religion ist entstanden, wenn grössere Gemeinschaften begannen, sich als Ganzes zu sehen und zu verstehen. Ein Ganzes, aus dem man nie herauskam. Mittlerweile sind wir rausgeflogen. Das Ganze zu denken nennen wir heute Soziologie, damals war es Religion. Das Profane betraf das Alltägliche meines Lebens, und das Heilige war das, was das Ganze betraf. Heute haben wir dafür die Politik. Was damals ein Sakrileg war, ist heute Korruption.

Man wundert sich bei Machthabern wie Berlusconi oder Asad, wozu die alle bereit sind, um an der Macht zu bleiben.

Von Putin gibt es ein Foto, das hat mich frappiert. Da kommt die korrumpierende Macht voll zum Ausdruck: Merkel ist bei ihm zu Besuch; sie sitzt neben ihm im Sessel, und vor ihr steht ein grosser Hund, ein irrsinniges Bild. Putin als Hundehalter, ohne Leine, der Hund pariert auch so, das ist klar. Merkel wirkt ganz verschüchtert, und Putin sitzt selbstzufrieden so leicht hingefläzt im Sessel, eine vollkommene Machoszene. Auf diesem Bild sieht man den Genuss der Macht. Eine bedrohliche Macht. Merkel hat ihre Amtsmacht klug inne, aber sie hat kein emotionales Verhältnis zur Macht, anders als Putin. Der Hund zeigt sein Machtgebaren. Dieser Mensch hat ein grosses Vergnügen daran, Macht auszuüben.

Die Macht wird zum Selbstzweck?

Ja. Die grösste Intensität hat die Macht über eine Person, im Ex­trem über Leben und Tod. Das ist das Zentrum der Macht. Machtlust in dem für uns gefährlich anmutenden Sinne ist der Genuss daran, anderen die Souveränität, das eigene Zentrum zu rauben. Ich bin dein Schicksal. Das ist die geheime Botschaft der Machtlust.

Und die ist unersättlich?

Wir können eine Analogie bilden: Der Reiche ist bestrebt, möglichst viele Dinge um sich zu versammeln. Der Berühmte will, dass sein Name möglichst viel Aufmerksamkeit erregt. Der Traum des Mächtigen ist es, viele Schicksale unter sich zu haben. Einer sammelt Güter, einer Ankerkennung und einer Schicksale.

Die Geschichte zeigt, dass selbst Revolutionäre, die Diktatoren stürzten, ihre Ideale verrieten.

Eigentlich kann man darüber gar nicht staunen, erstaunlich wäre der umgekehrte Fall, dass jemand sich treu bleibt. In eine Machtposition zu kommen ist eine derart gewandelte Situation, dass es geradezu unwahrscheinlich ist, dass der Mensch sich nicht ändert. Nichts scheint das Ego mehr zu streicheln als Machtfülle. Wobei man historische Unterschiede machen muss. Die Machtgefüge haben sich verändert.

Inwiefern?

Wir haben in Europa heute vielerorts flache Hierarchien. In Deutschland hat sich die Machtausübung gewissermassen veralltäglicht. Die Franzosen hingegen haben noch eine traditionelle politische Machtkultur. Der französische Präsident hat noch immer einen Abglanz des Sonnenkönigs, in Deutschland ist die Vergewöhnlichung von Machtausübung – gerade auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte – besonders stark. Aus naheliegenden Gründen tut man sich hier schwer mit politischem Pathos.

Woran wird das deutlich?

Die Verkleinbürgerlichung geht so weit, dass man kein Fest mehr organisieren kann, das etwas Glanz hat. Die Franzosen können das, die Amerikaner auf ihre Weise auch, aber in Deutschland gilt: Bloss kein Pathos. Deswegen passt Angela Merkel auch so gut, sie führt das Regierungsgeschäft absolut pathosfrei, was gemessen an der deutschen Geschichte etwas Entlastendes hat. Ich glaube, grosse Machtgefühle entstehen nicht mehr in der Politik, sondern im Finanzgeschäft, in Banken und Konzernen.

Ist das eine Erklärung für die zum Teil absurden Managergehälter?

Joe Ackermann hat mal gesagt: «Sie müssen das so sehen, in dieser Szene gibt es eine Hackordnung. Ich tue der Deutschen Bank keinen Gefallen, wenn ich weniger verdiene, weil sie dann im Ranking der Banken eher schlecht dasteht.» Jeder Mikrokosmos hat seine Mechanismen. Möglicherweise glaubt der das auch noch.

Selbst auf Hierarchieebenen, auf denen sich der Eros der Macht in Grenzen hält, kommen Politiker schnell vom Pfad ab. Warum?

Es gibt zwei Strebelinien: Der Mensch ist durch seine Kleinherzigkeit verführbar, aber zum Glück auch durch seine Grossartigkeit. Einer wie Klaus Esser, der sich bei Mannesmann masslos bereicherte, hat diese rechnerische Gesinnung, da ist alles eng. Aber der Mensch hat beide Talente: Wir können unter und über unser Niveau gehen. Wobei jeder, der zu wohlmeinend daherkommt, auch etwas Hochstaplerisches an sich hat, das ist klar. Dennoch gibt es einen Eros der Macht, der am Gemeinwohl orientiert ist. Da erstreben Menschen eine Steigerung über Grossherzigkeit, setzen ihre Ziele entsprechend und beweisen die Fähigkeit zur Grandezza.

Welche Beispiele fallen Ihnen auf Anhieb ein?

Es gibt sehr glaubwürdige Politiker. Kofi Annan kommt mir in den Sinn. Oder Wolfgang Schäuble. Den halte ich für einen eindrucksvollen, grossartigen Menschen, auch wenn ich politisch nicht immer einverstanden bin. Nelson Mandela natürlich! An seinem Beispiel sieht man, wie unabdingbar solche Figuren für das Allgemeinwesen sind. So wie es Konrad Adenauer in der deutschen Nachkriegsgeschichte war, einer mit gesundem Menschenverstand. Der amerikanische Präsident Truman soll privat ein furchtbarer Kleinkrämer gewesen sein, aber im Amt ist er eine grossartige Figur geworden, trotz dem Atombombenabwurf. Er hat sich als private Person auf die Höhe des Amtes gebracht. Bei Nixon ist es wohl eher andersrum gewesen. Wir kennen viele, die ein Amt herunterziehen zu sich selbst. Wulff zum Beispiel, auch wenn er kein grosser Bösewicht war, sondern nur der normale Schnäppchenjäger.

Gibt es so etwas wie eine fröhliche Machtausübung?

O ja. Jeder gute Popmusiker, der gut drauf ist und sein Publikum im Griff hat, übt aufs fröhlichste Macht aus. Und es gibt erhabene Machtausübung: Claudio Abbado dirigiert in Luzern! Auf den ­Knien des Herzens hört man das Orchester spielen, mit einer seligen Freude.

Aber einen machtfreien Raum gibt es nicht? Wer ein Gefälle ausmacht, wird es nutzen?

Ja, das ist der zentrale Satz. Ein Machtvakuum gibt es nicht.

anja Jardine ist Folio-Redaktorin.

«Putin als Hundehalter, ohne Leine, der Hund pariert auch so, das ist klar.»

«Putin als Hundehalter, ohne Leine, der Hund pariert auch so, das ist klar.»

Rüdiger Safranski: «Es gibt kein Machtvakuum.»

Rüdiger Safranski: «Es gibt kein Machtvakuum.»

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom November 2012 zum Thema "Macht". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.